SVA: Die Ärztekammer merkt die Absicht – und ist verstimmt

Wie bereits berichtet geht es in der aktuellen Auseinandersetzung zwischen Ärztekammer und der Sozialversicherung der gewerblichen Wirtschaft nicht nur um die Erhöhung der Honorare, sondern um den Widerstand gegen das geplante „Care Management“. Doch was dies genau ist, haben weder die Ärzte noch die Versicherer bisher kommuniziert.

Elisabeth Höchtl: "Auch die österreichischen Ärzte werden in Zukunft verstärkt auch die ökonomischen Aspekte bei ihren Entscheidungen berücksichtigen müssen."

Zumindest seit 1960 lassen in regelmäßigen Abständen Ärztevertreter und jene der Sozialversicherungen die Muskeln spielen, seit zumindest 50 Jahren steht immer wieder ein „vertragsloser Zustand droht“ zur Diskussion. Die Kassen leiden seit Jahrzehnten unter chronischer Geldnot, die Ärzte fühlen ihre Leistungen seit Jahrzehnten nicht adäquat entlohnt und sowohl Ärzte als auch Kassenvertreter beklagen seit Jahrzehnten den Einfluss der Politik auf die gesetzlich vorgeschriebenen Leistungen, die aus dem Kassenbudgets finanziert werden müssen.

Im März 1960 beklagte der damalige Vizekanzler Dr. Bruno Pittermann in einem Rundfunkinterview, dass „die Krankenkassen in eine bedrängte Lage geraten wären, weil ihnen die Finanzverwaltung seit Jahren Lasten für familienpolitische Zwecke auferlegt hat, ohne ihnen einen Ersatz dafür zu geben“. Die „Arbeiterzeitung“ schreibt am 27. März 1960: „Niemand bestreitet den Ärzten ein Recht auf leistungsgerechte Entlohnung; auch sie sind ebenso wie die Verwaltungen der Krankenkassen das Opfer einer kurzsichtigen Finanzwirtschaft.“ Einige Zeilen weiter hofft der Redakteur der „Arbeiterzeitung“: „Hoffentlich bringen die Verhandlungen einen Abschluss, der den honorarvertragslosen Zustand vermeidet und die Leistungen der Kassen ohne empfindliche Belastungen erhält.“

Die "Arbeiterzeitung" berichtete bereits am 27. März 1960 über einen drohenden "vertragslosen Zustand".

Inzwischen sind 50 Jahre vergangen, allein das Spiel der Kräfte im Gesundheitswesen ist – mit wechselnden politischen Aufträgen an die Krankenkassen – das gleiche geblieben. Nach wie vor delegieren die politisch Verantwortlichen Leistungen an die Krankenkassen, die zwar teuer, aber nur bedingt dem Gesundheitssystem zuzurechnen sind. Damit wurden und werden Aufgaben an das Gesundheitssystem übertragen, die eigentlich in das Budget des Sozial- oder Familienressorts fallen müssten.

Krankenkassen als Zahlmeister für die Tourismusbranche

Auch eine Reihe von lautstarken Lobbies wurden zunehmend auf Kosten der Krankenkassen bedient, die mit überprüfenswerten Methoden arbeiten. Homöopathie auf Kassenkosten, Wohlfühl-Seminare, getarnt als „Therapie“, als „Kur“ getarnte Aktivurlaube, die in erster Linie die von der Tourismuswirtschaft und den Lokalpolitikern aus dem Boden gestampften „Kurhotels“ füllen und finanzieren müssen. Wissenschaftlich auf Heilwirkung überprüfbar sind die meisten dieser von den Kassen finanzierten „Diagnose- und Therapieangebote“ nicht.

Auch die Finanzierbarkeit der Kassen ist längst an jene Grenzen gestoßen, vor denen in den 80er-Jahren des vorigen Jahrhunderts der damalige Sozialminister Alfred Dallinger gewarnt hatte. Die Wertschöpfung der Wirtschaft werde immer mehr durch Maschinen und Computer erbracht werden, die keinen finanziellen Beitrag zum Gesundheitswesen liefern werden, so seine Prognose. Deshalb müsse, so seine damalige Forderung, auch eine „Wertschöpfungsabgabe“ zur Finanzierung des Sozialsystems eingeführt werden.

Mit dieser Einschätzung behielt der tödlich verunglückte Minister recht, die Einnahmen im Sozialversicherungssystem können den Anforderungen nicht gerecht werden. Harte Verteilungskämpfe finden hinter den Kulissen seit Jahren statt. Doch Österreich ist keine Insel, die staatlichen oder sozialpartnerschaftlich organisierten Sozialsysteme sind europaweit am kollabieren. Dies hat bewirkt, dass zunehmend Ökonomen an Einfluss gewinnen, die einen radikalen Umbau der Krankenversicherungssysteme fordern und teilweise auch bereits umgesetzt haben. Was in Österreich als Horrorszenario gilt, wurde in Großbritannien – mit allen negativen Folgen – bereits Realität. Im Reich der Queen gilt, vereinfacht beschrieben: Der Aufwand für medizinische Leistungen muss sich lohnen. Das heißt im Klartext: ein neues Schultergelenk für einen 78-jährigen, eine Prostatakrebsoperation für einen 84-Jährigen ist zu kostenintensiv und wird, anders als (derzeit noch) in Österreich, nicht genehmigt.

Internationale Standards für Österreichs Sozialsystem

Als Grundlage für diese Entscheidungen wird zunehmend mit den Erkenntnissen der „Evidence based Medicine“ argumentiert. Dr. Elisabeth Höchtl, die sich in ihrer Dissertation an der „Privaten Universität für Gesundheitswissenschaften, Medizinische Informatik und Technik“ mit dem Thema „Evidenzbasierte Medizin und medizinische Leitlinien zwischen Theoriebezug und Praxisrelevanz“ auseindergesetzt hat, erklärt den Hintergrund:  „Das Ziel ist es auch, anstelle der irrationalen ärztlichen „Kunst“ nachvollziehbare diagnostische Methoden ohne Doppelgleisigkeiten und effektive therapeutische Interventionen zu ermöglichen, um die bestmögliche Versorgung der Patienten zu garantieren. Alle medizinischen Maßnahmen sollen auf ihre Wirksamkeit ausreichend geprüft sein, die Auswahl der Diagnosemöglichkeiten und Therapien sollen den jeweiligen Verdachtsdiagnosen angemessen gewählt werden.“ (Quelle: Dissertation Dr. Elisabeth Höchtl, MAS)

Genau dies will nun die Sozialversicherung der gewerblichen Wirtschaft als erste Krankenkasse Österreich zumindest teilweise in der neuen Honorarordnung realisieren. Generaldirektor Stefan Vlasich kündigt dies, wenn auch behutsam, klar an: „Wir haben drei Ziele, in die wir investieren wollen. Die Prävention, die wir stärken wollen, die Einführung des Arztes als Lotse und Gatekeeper für die Behandlung chronisch Kranker nach EbM-Richtlinien und die Betreuung von Akutpatienten.“ Für Akutpatienten soll sich nichts ändern, verspricht der General der SVA, die präventiven Maßnahmen sollen verstärkt werden, bei den Kosten für „technische Bereiche“ wie Labor oder Röntgen könnten hingegen 11,7 Millionen Euro pro Jahr eingespart werden.

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Das Gesundheitssystem wird zum „Markt“

Was die „Gatekeeper-Funktion“ des (Haus)-Arztes bedeuten könnte, das hat Elisabeth Höchtl wissenschaftlich beschrieben: „Es ist anzunehmen, dass jene, die der EbM derzeit noch skeptisch oder ablehnend gegenüber stehen, vor allem fürchten, an Kompetenzen, Einfluss und Autorität zu verlieren. Besonders in der Berufsgruppe der Ärzte wird mitunter argwöhnisch beobachtet, dass anderen Professionen durch die konsequente Beachtung der EbM-Grundsätze, die in dieser Arbeit beschrieben wurden, mehr Mitsprachemöglichkeiten zugestanden werden (müssen): So überprüfen Gesundheitsökonomen zunehmend die ärztlichen Maßnahmen in den diagnostischen und therapeutischen Bereichen nach evidenten wissenschaftlichen Erkenntnissen, Gesundheitspolitiker treffen Entscheidungen und beschließen Gesetze, die ebenso diese Erkenntnisse berücksichtigen wie Leistungsträger, die zunehmend jene Leistungen reduzieren, deren Sinnhaftigkeit nicht wissenschaftlich erwiesen sind.“

Konkret bedeutet dies, dass das Gesundheitssystem zunehmend zu einem „Markt“ wird, an deren „Anbieter“ qualitativ und ökonomisch höhere Ansprüche gestellt werden, als dies in der Vergangenheit der Fall war. „Auch in Österreich werden international gültige medizinische Standards für gesundheitspolitische und gesundheitsökonomische Entscheidungen zunehmend eine viel größere Rolle spielen als bisher“, so Höchtl. „Auch die österreichischen Ärzte werden in Zukunft verstärkt auch die ökonomischen Aspekte bei ihren Entscheidungen berücksichtigen müssen. Denn die Einführung international anerkannter Standards wird verstärkt dazu führen, dass manche diagnostische und therapeutische Interventionen nicht mehr von Sozialversicherungen finanziert werden und daher in den „kassenfreien Raum“ gedrängt werden, der von Patienten selbst finanziert werden muss.“

Im Klartext heißt dies: Viele ärztliche Leistungen, die derzeit noch auf Kosten der Krankenkassen erbracht werden, müssen früher oder später von Patienten selbst bezahlt werden. Von der Homöopathie über Kuren bis zu zusätzlichen Diagnosemethoden, deren Nutzen wissenschaftlich nicht eindeutig erwiesen ist.

Links:

Arbeiterzeitung

Wikipedia: Evidence based Medicine

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Schlagworte: Arzt, Elisabeth Höchtl, Gesetz, Gesundheit, Medien, Politik, Sicherheit, Soziales, SVA,

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